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Freilernen in Kalabrien (Goodbye Deutschland)



Du lebst mit deiner Familie in Ka­labrien, Italien. Wie lernen denn deine Kinder?

Rückblickend begann der neue Lebensabschnitt mit den Fragen, wie wollen wir freier leben und wie entwickelt sich daraus das freie Lernen?

Nach dem Umzug in das neue Land stand für uns in der neuen Umgebung zunächst das Ankom­men für jeden Einzelnen und für uns als Familie im Mittelpunkt. Uns in der Wohnung und im Gar­ten wohlzufühlen, um dann ins Dorf zu spazieren, mit den Nach­barn die ersten Kontakte in der neuen Sprache zu knüpfen und auch andere Auswanderer ken­nenzulernen. Durch den Aus­tausch entstanden Ideen, wie sich jeder einbringen mag und wir be­gannen, regelmäßige Begegnungs­treffen zu planen.

Bei diesen Treffen konnten wir herausfinden, welche Bedürfnisse übereinstimmen, welche Werte vorhanden sind und welchen Rah­men wir uns und unseren Kindern wünschen. Da wir alle spätestens mit dem Umzug eine gewisse Fle­xibilität in unsere Arbeit einbau­ten, ist auch hier ein fließender Übergang im Alltag entstanden. Kommunikation ist auch bei uns ein wichtiges Thema. Wann habe ich feste Termine, bin ich beim Ar­beiten flexibler und kann für die Kinder ansprechbar sein?


Wo ist der Lernort deiner Kinder?

Die meisten italienischen Kinder besuchen regulär einen Kinder­garten oder eine Schule. Das Schul- und Betreuungssystem ist hier mit deutschen Einrichtungen vergleichbar.

Die Kinder in unserem Umfeld lernen zu Hause, wenn sie in un­serem Viertel unterwegs sind und in den verschiedenen Kursen, die temporär in unserem Bekannten- und Freundeskreis angeboten werden. Wir Erwachsenen sind diejenigen, die Impulse bemer­ken, kommunizieren und je nach Möglichkeit und auch mit eigener Freude daran, findet sich immer jemand, der zeitnah ein Angebot macht. Bei uns begeistern sich sehr viele Kinder für das Thema Holz: planen, bauen, erschaffen. Da kommen wir mit dem Angebot bisher nicht hinterher.

Sprache, Bewegung, Ernährung, Umwelt sind bei uns ausbalan­ciert, was Nachfrage und Angebot angeht.

Manchmal gab es schon Phasen von ein bis zwei Wochen, als viele Bezugspersonen parallel sehr mit Arbeit, Projekten und Ähnlichem beschäftigt waren. Wenn es in die­ser Zeit keine Kurse gab, haben die Kinder von früh bis spät gespielt, sich ausgeruht und eigene Kurse gestartet. Das alles ist für uns ja auch spannend, da wir uns eben­falls vortasten und selbst neu ler­nen, wie wir uns entfalten können.

Unsere Kinder sind vor Kurzem sechs und neun Jahre alt gewor­den und wenn ich gefragt werde, wie sie lernen, dann sage ich meist, von früh bis spät. Denn das ist auch eine der ersten Erfahrungen, die wir mit dem Thema Freilernen gemacht haben, das direkte Um­feld des Menschen ist das größte Lernfeld. Wenn man es ganz ge­nau nimmt, beginnt es schon mit dem Aufstehen. Der Mensch wird wach, kommt in sein Bewusstsein und beginnt den Tag mit dem Auf­stehen. Dann kommen die ersten Ideen: habe ich Hunger, was könnte ich zubereiten, was ist vor­handen. Unsere Sechsjährige zum Beispiel hat direkt Appetit auf Nussmus und geht noch im Schlafanzug raus und sucht Nüsse. Worauf im Frühjahr die Frage kam: „Mama, warum finde ich keine Nüsse unter dem Nuss­baum?“

Et voilà, das Lernen hat begonnen und im besten Fall kann man sich gemeinsam Zeit nehmen, den Baum zu untersuchen, über die Jahreszeiten zu sprechen sowie über die natürlichen Abläufe. Wir ha­ben uns über die Jahre zu Hause eine relativ große Bibliothek ge­schaffen, sodass wir zu vielen The­men auch Bilder anschauen, nach­lesen und recherchieren können. Oft begleiten uns die Themen eine ganze Weile – da werden noch wochen­lang Bilder von Nüssen, Bäumen und der Ernte gemalt.


Habt ihr, was die Lernform an­geht, dort viele Gleichgesinnte?

Kalabrien hat große, ländliche Re­gionen und meine Erfahrung bis­her ist, dass die Bildung der Kin­der in der Verantwortung der El­tern liegt. Das bedeutet, wir kön­nen unsere Kinder zu Hause bil­den und es gibt dafür bisher von staatlicher Seite aus keine Regula­rien. Das liegt aktuell be­stimmt auch daran, dass die italie­nischen Familien sich eher am System orientieren.

Wenn ein Paar ein Kind be­kommt, bleibt die Mutter manch­mal ein Jahr lang zu Hause. Auch wenn Großeltern und ein Netz­werk vorhanden wären, ist bei vie­len eine rasche Eingliederung in die Arbeit und ab diesem Zeit­punkt eine Betreuung des Kindes üblich.

Wir haben, seit wir hier leben, auch immer mehr Menschen ken­nengelernt, die sich das anders wünschen und bereits Ideen ha­ben. Manche der einheimischen Kinder besuchen auch unsere Kurse, gerade weil die Kinder sich z. B. auf dem Spielplatz anfreun­den. Wir wollen hier die Welt nicht neu erfinden, sondern ein­fach unserem Gespür folgen, dass es eben möglich ist, anders zu le­ben und zu lernen, weil alle sich besser entfalten können.


Du hältst Vorträge zum Thema Freilernen. Wie bist du dazu ge­kommen?

Ich liebe gute Gespräche, in denen ein reger Austausch stattfindet und alle Beteiligten etwas für sich mitnehmen können. Da ich in meinem Leben eine Zeit lang ge­reist bin und an unterschiedlichen Orten gelebt habe, ist so ein stetig wachsendes Netzwerk entstan­den. Mir wird immer wieder kom­muniziert, dass es inspirierend ist, von unserem Weg zu hören und dadurch haben sich an verschie­denen Orten Nachfragen ergeben. Und auch ich selbst lerne bei den Treffen immer sehr viel, weil ich noch mal höre und spüre, wo ich aktuell stehe und weil dort immer sehr interessante Menschen anzu­treffen sind.


Wie sehen diese Vorträge genau aus? Ich nehme an, du berichtest auch über eure Erfahrungen?

Wenn eine Anfrage zu mir kommt, ist für mich vor allem der Schwerpunkt wichtig. Geht es um das Interesse an der Entwick­lungspsychologie, wie entsteht die Freude am Lernen und viele prak­tische Beispiele haben wir natür­lich selbst erlebt. Aber ich darf wirklich aus jedem Treffen Ge­schichten von Teilnehmern mit­nehmen. Die Erfahrung hat ge­zeigt, dass es immer jemanden gibt, dem genau diese Geschichte wie eine Umarmung des Himmels vorkommt.


Warum „Freilernen“? Was über­zeugt dich daran?

Das Freilernen ist ein derart gro­ßes Thema, weil es so vielfältig ist. Selbst unter sogenannten Freiler­nern werden große Unterschiede gemacht. Wie viele Impulse sollen dem Lernenden gegeben werden, welches Material wird genutzt – nur das Umfeld oder Grundschul­material aus dem Internet? Ich nehme wahr, dass an verschiede­nen Orten experimentiert wird und erst die Zeit wird uns wieder zeigen, was bleibt und Bestand hat und was nicht. Ich könnte mir auch vorstellen, dass es z. B. in zwanzig Jahren viel mehr Misch­formen von Schule und Freilernen geben wird. Das würde mich sehr freuen. Das ist Evolution, um es mal von einer anderen Ebene aus zu betrachten.


Gibt es verschiedene pädagogi­sche Konzepte, die du für dich persönlich ansprechend findest?

Die aktuell im deutschsprachigen Raum bekannten Konzepte sehe ich als bereichernde Anregung da­für, was der kleinste Kreis braucht, um sich entfalten zu kön­nen. Ich bin auch hier für die Mi­schung und im besten Fall darf angepasst werden, wenn die Be­teiligten sich darüber austauschen und es der Entwicklung des Men­schen dient.


Wenn ja, welche Konzepte sind das und was sagt dir daran zu?

Ich kenne als ehemalige Waldorf­schülerin die klassischen Kon­zepte wie Montessori, Wild, Pikler und einige menschen­freundliche Entwicklungspsycho­logen. Ich habe früh beschlossen, mich auch derer Erkenntnisse zu bedienen und bei Bedarf binden wir eigene Erkenntnisse ein. Zur­zeit ist Flexibilität bei uns ein gro­ßes Thema. Das wird ausgedehnt und es wird beobachtet, wie es plötzlich schrumpft und wie es sich entspannt. Auch das ist ein Prozess und im besten Falle nicht starr, sondern fließend.


Welche Schulform würdest du dir in Deutschland für deine Kinder vorstellen?

In Deutschland sind in den letzten Jahren so viele neue Schulformen entstanden, ich bin wirklich be­geistert. Am wohlsten fühlt sich das freie, aktive Schulsystem an. Aber auch hier kommt es dann auf das Miteinander, die Kommuni­kation in den Teams und mit den Familien an. Für uns ist nicht aus­geschlossen, dass unsere Kinder noch einmal eine Schule besuchen werden, vor allem, wenn es ihr Wunsch ist. Ich freue mich sehr über die Entwicklungen und trage auch gerne unseren Teil dazu bei, darum auch die Vorträge und „Get-together“ zum Thema Bildung.


Taugt das aktuelle deutsche Schulsystem in deinen Augen noch was? Wenn nein, warum? Wenn ja, wieso?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es dem Menschen nicht dient, an etwas festzuhalten. Tust du das, dann frage dich ganz ehr­lich in einem ruhigen Moment, warum? Oft stehen dahinter Ängste und Sorgen und das sind keine guten Nährböden für eine freie Entfaltung. Schaffe dir des­halb ein Umfeld, in dem du dich wirklich entwickeln kannst, schau gut hin, erst nach innen und dann nach außen. Und wenn die Zeit reif ist für Veränderungen, dann öffne dich in deinem Tempo. Das ist das Menschsein, der Mensch existiert, weil er sich seit jeher ent­faltet und weiterentwickelt.


Interview mit Désirée Amann

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