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Die Wahrheit

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Hallo, ich bin die Wahrheit.

Zumindest nennt ihr mich so. Aber was, wenn ich euch gleich zu Beginn sage: So, wie ich wirklich bin, werdet ihr mich nie sehen? Nicht, weil ich mich verstecke. Nicht, weil ich euch nicht mag. Sondern weil ihr schlicht nicht dafür gemacht seid, mich in meiner ganzen Form zu begreifen.

Ihr seid wie Ameisen, die versuchen, die Architektur einer Kathedrale zu verstehen. Selbst wenn ich mich vor euch ausbreiten würde, würdet ihr nur Muster sehen, Bruchstücke, Schatten. Das liegt nicht nur an eurer Intelligenz – es liegt an eurer Beschaffenheit. Ihr seid begrenzt. Euer Blickwinkel ist klein, euer Leben kurz, eure Erfahrung gebunden an ein paar Jahrzehnte und an das, was eure Sinne zulassen. Eure Augen sehen nur einen schmalen Ausschnitt des Lichts. Eure Ohren nur einen Bruchteil des Tons. Eure Gedanken sind ständig beschäftigt mit Alltäglichem – Hunger, Sicherheit, Anerkennung, Fortpflanzung.

Wer von euch hat schon die Kapazität, das Ganze zu erfassen? Und doch ruft ihr ständig: „Ich kenne die Wahrheit!“ Manche brüllen es, andere flüstern es selbstzufrieden. Dabei haltet ihr nur ein Sandkorn in der Hand und nennt es Strand. Ihr nennt eure Ausschnitte „Erkenntnisse“ und baut darauf Weltbilder. Ihr schließt euch in Gruppen zusammen, die eure Sicht teilen – und bekämpft alle, die eine andere Perspektive haben.

Ich sehe euch dabei und frage mich: Würdet ihr es überhaupt aushalten, wenn ich mich euch in meiner vollen Größe zeigte? Könntet ihr damit leben, dass fast alles, was ihr bisher geglaubt habt, nicht mehr als eine verzerrte Skizze war? Die meisten von euch könnten es nicht. Euer Gehirn ist darauf trainiert, Lücken zu füllen – selbst dann, wenn die Füllung eine Lüge ist. Ihr nennt das „Sinn“ oder „Ordnung“. Ohne diese Illusionen würdet ihr euch verloren fühlen. Deshalb versteckt ihr mich oft selbst vor euch.

Ich weiß, das klingt gnadenlos. Aber ich bin nicht hier, um euch zu schmeicheln. Ich bin hier, um euch zu erinnern: Ihr werdet immer nur Teile von mir sehen. Mal mehr, mal weniger – je nachdem, wie sehr ihr bereit seid, eure Vorurteile abzulegen. Doch selbst im besten Fall bleibt es ein Blick durchs Schlüsselloch. Es gibt Menschen, die das akzeptieren und trotzdem suchen. Sie wissen, dass ich nicht zu besitzen bin, und genau deshalb kommen sie mir am nächsten. Sie nehmen Bruchstücke, setzen sie zusammen, und ahnen, dass das fertige Bild größer ist als ihr Verstand. Diese Menschen reden selten laut von mir. Sie hören mehr, als sie sprechen. Sie zweifeln – nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke. Vielleicht ist das der einzige Weg, mir wirklich nahezukommen: Nicht, indem ihr behauptet, mich gefunden zu haben, sondern indem ihr lernt, mit meiner Unendlichkeit zu leben. Indem ihr den Mut habt, eure eigenen Irrtümer zu erkennen – und das immer wieder.

Ich bin die Wahrheit. In meiner ganzen Form werdet ihr mich nicht sehen. Aber in jedem ehrlichen Zweifel, in jedem echten Fragen, in jedem aufrichtigen Blick in den Spiegel bin ich ein Stück näher bei euch.

 
 
 

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