Hallo, ich bin eine Schultafel. Ich stehe noch in einer alten Schule und bin genauso alt wie diese. Ich bin schon ein betagtes Exemplar, das noch mit Kreide beschrieben wird, über 50 Jahre alt ist und viel gesehen hat.
Als ich frisch aufgehängt wurde, da waren die Lehrer noch sehr streng. Wenn ein Schüler nicht folgte, konnte es schon passieren, dass er mit dem Stock geschlagen wurde. Später wurde mit den Schülern vieles ausprobiert. Es wurden verschiedene Lehrinhalte getestet und es wurde auch viel diskutiert, aber in Wirklichkeit kam dabei nichts Neues heraus. Die Lehrer standen vorne und hielten ihren Unterricht ab. Früher standen sie dort mit Anzug und Krawatte, heute mit Jeans und T-Shirt. Das Äußere hat sich verändert, das Prinzip jedoch nicht. Was ist denn das Prinzip? Alle Schüler sollen denselben, vorgegebenen Stoff idealerweise gleich gut beherrschen. Wenn nicht, dann gibt es eine schlechte Bewertung.
Nach 50 Jahren ist mir aufgefallen, dass die Inhalte des Unterrichts immer belangloser werden. Man kann sagen, dass sich das Wissen auf der Welt ca. alle 10 Jahre verdoppelt. Da ich jetzt schon über 50 Jahre alt bin, hat sich das Wissen demnach schon um den Faktor 32 vermehrt. Auf der einen Seite versucht man jetzt den Kindern immer mehr Stoff in immer kürzerer Zeit zu vermitteln, auf der anderen Seite sind es immer mehr Themen, die nach der Schule niemand mehr benötigt. Die Kinder merken zunehmend, dass sie damit eigentlich nur ihre Zeit verschwenden. Es gibt inzwischen Untersuchungen, die besagen, dass ein Schüler 3 Jahre nach dem Verlassen der Schule ca. bis zu 90 % von dem, was er dort gelernt hat, wieder vergessen hat.
Besonders interessant finde ich jedes Mal die Elternabende. Es gibt immer einige sehr engagierte Eltern, die sich auch kritisch mit den Zuständen an der Schule auseinandersetzen, aber auch viele, interessante Ideen haben, wie man die Potenziale der Kinder fördern kann–da höre ich besonders gerne zu. Man könnte z. B. altersübergreifend zusammen lernen und die älteren Schüler die jüngeren unterstützen lassen. Ein interessantes Projekt ist für mich z. B. die „Schule im Aufbruch“. Es gibt dort Fächer wie „Verantwortung“, in welchem die Schüler lernen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen und so ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Ein anderes Fach heißt „Heraus-forderung“, wo die Schüler lernen, ohne Hilfe von Erwachsenen verschiedene Herausforderungen im Team zu bestehen.
Was für Schüler brauchen wir denn in der Zukunft? Schüler, die immer gehorchen und sich möglichst gut anpassen können, oder Schüler, die ein gesundes Selbstbewusstsein haben und in der Lage sind, sowohl Verantwortung zu übernehmen als auch mit Herausforderungen klarzukommen? Ich finde die gehorsamen und angepassten Schüler offen gestanden ziemlich langweilig, denn heute mag niemand mehr eine andere Meinung vertreten als die Mehrheit. Sowohl die Lehrer als auch die Schüler sind es kaum noch gewohnt, mit anderen Meinungen umzugehen. Es ist eigentlich traurig, dass sich das Schulsystem nach über 50 Jahren wieder in Richtung eines konformen Denkens entwickelt hat und die Freiheit der Gedanken als gefährlich angesehen wird. Ich würde auf meine alten Tage, bevor ich gegen so eine neumodische, digitale Tafel ausgetauscht werde, gerne noch ein einziges Mal wieder eine gute und offene Diskussion miterleben, die von gebildeten und selbstbewussten Menschen mit Rückgrat geführt wird. Ich mag die Schüler, die ich in den letzten über 50 Jahren vor mir gesehen habe. Viele waren einfach tolle Menschen, manche auch etwas grausam, aber so ist eben die Welt. Am besten haben mir die freien Geister gefallen und ich wünsche mir, dass es davon in Zukunft wieder viele geben wird.
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